Sehnsuchtsträume

 

Ari holte lustlos das braune Tablett aus der Küche und begann den einzigen Tisch abzuräumen, der an diesem Mittag im Februar besetzt gewesen war. Jetzt in der Vorsaison kamen nur wenige Touristen auf die Insel und eigentlich lohnte es sich nicht, die Taverne überhaupt zu öffnen. Maria, Aris große Schwester sah das allerdings völlig anders. „Wir sind ein gastfreundliches Volk und wir lassen niemanden hungrig wieder gehen, auch wenn es nur ein einziger Besucher ist.“ Das war ihr Grundsatz und daran gab es nichts zu rütteln.

Er seufzte kurz, machte sich aber dann doch daran, die kleinen Weingläser abzuräumen, aus denen der harzige Retsina so gut schmeckte, die leeren Teller zusammenzustellen, letzte Brotkrümeln vom Tisch zu fegen und alles zurück in die Küche zu tragen. Etwas missmutig kehrte er dann zurück, zog einen der blauen Holzstühle schräg nach vorne, klopfte nochmals auf die geflochtene, bereits etwas ausgerissene Sitzfläche, und setzte sich hin, das Gesicht in Richtung Sonne gestreckt. Der warme Frühlingswind trug einen leichten Geruch von Salz und Meer heran und Ari hörte die kleinen Wellen an die im Hafen verankerten Fischerboote klatschen. Diese waren bereits vom Fischfang zurück und lagen fest vertäut am Kai. Er genoss die leichte Brise und atmetet die verschiedenen Düfte ein, die jetzt bereits einen ersten Vorgeschmack auf den Sommer erahnen ließen. Ari schloss die Augen und er begann zu träumen…

…. zu träumen von einer jungen Frau, die als eine der letzten Besucher im vergangenen Herbst auf die Insel kam. Alleine, nur mit einem Rucksack im Gepäck. Er stand damals zufällig am Kai als sein alter Freund Christos mit einem bereits in die Jahre gekommenen Kahn mehrere Anläufe nahm, um bei Wind und großen Wellen an der Mole festzumachen. Breitbeinig stand am Deck die junge Frau um im heftigen Schaukeln nicht den Halt zu verlieren. So war sie vorbereitet, jederzeit an Land springen zu können, wenn Christos das Signal dazu gab. Ari streckte ihr seine braungebrannte Hand entgegen, die sie nach kurzem Zögern bereitwillig nahm und half ihr, sicher auf dem Pflaster zu landen. „Kalimera – und danke“ sagte sie und bis er sich umsah, war sie im Getümmel von Fischern und anderen Einheimischen verschwunden. Ari schaute sich um. Links, rechts und er lief die Mole entlang, die den kleinen Hafen begrenzte.  Die meisten Tavernen hatten bereits geschlossen. Vorwiegend alte Männer standen in Gruppen beieinander, rauchten und gestikulierten wie immer lebhaft mit beiden Händen. Der Wind zerrte an Markisen und aufgehängter Wäsche. Fensterläden, die nicht ordentlich eingehakt waren, schlugen laut auf und zu. Sogar die gefangenen Tintenfische, die auf den Leinen zwischen den Kähnen hingen, schaukelten heftig mit den Windböen hin und her. Ari lief bis in den Ortskern, schaute beim Bäcker, beim Metzgern und sogar beim Dorffriseur hinein – niemand hatte diese junge Frau, die er beschrieb, gesehen. „Sie hat rotbraune Locken, grüne Augen, trägt ein weißes T-Shirt und Jeans“ erklärte er. „Sie muss Euch doch aufgefallen sein!“ Ari konnte es sich nicht verstehen, dass niemand das Mädchen gesehen hatte. Er war doch nicht verrückt! Kopfschüttelnd nahm er den Weg zurück zum Hafen. Diesen Blick in ihre Augen als er ihr seine Hände entgegenstreckte – es hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Wo war sie nur?

Missmutig schlenderte er zurück zur Taverne, die aber vollkommen verlassen war. Er bog in die kleine Gasse ein, die vom Hafen weg und zum Olivenhain führte. An dessen Rand stand das Häuschen, in dem Ari und seine Schwester aufgewachsen waren. Obwohl er den Blick auf  die weiß getünchten blauen Fensterläden und die vielen einzelnen Blumentöpfen, in denen im Sommer Geranien im Überfluss blühten, sehr liebte und ihm sein Zuhause ansonsten stets zu guter Stimmung verhalf, wollte sich seine Miene nicht aufhellen. „Gut, warum auch immer, ich habe mich getäuscht, das Mädchen ist weg und ich werde mich an meine Bücher setzen und mein Deutsch verbessern. Das kommt im Sommer bei den Touristen immer gut an und bringt ordentlich Trinkgeld.“

Ari drückte die Türklinke hinunter und öffnete die knarrende, ächzende Holztüre, die wie immer, wenn sie zu weit nach hinten schlug, wieder neue Stücke vom Mauerputz abschlug. Er trat in das durch die geschlossenen Fensterläden abgedunkelte Zimmer und stutze. Irgendetwas war anders als sonst. Ein angenehmer Geruch von Weihrauch lag in der Luft und seine Härchen am Arm stellten sich auf. Ari trat ein paar Schritte vor, sah aber nichts Ungewöhnliches – aber dort drüben – die Tür zu seinem Schlafzimmer war einen Spalt geöffnet. Er wusste, er hatte sie am Morgen ganz sicher zugezogen. Schritt für Schritt trat er darauf zu, horchte erneut, blieb stehen, ging noch einen Schritt vorwärts und schob ganz langsam die Tür weiter auf. Sein Blick fiel nun auf sein Bett, das gegenüber stand. Er traute seinen Augen kaum als er sah, dass darin, fast bis zur Nasenspitze zugedeckt, das Mädchen vom Hafen lag und tief und fest schlief. Sachte ging Ari ein paar Schritte zurück, um sie nicht zu wecken, stolperte dabei aber über den Rucksack, der vor der Tür lag. Er fluchte leise, doch es war zu spät. Das Mädchen hob den Kopf, rieb sich die Augen und lächelte ihn strahlend an. „Jassu Ari!  Entschuldige, dass ich Dich erschreckt habe und in dein Haus eingedrungen bin. Die Türe war zwar zugesperrt aber ich wusste, dass unter dem Geranientopf mit dem blauen Rand der Schlüssel liegt. Ich habe aufgesperrt und wollte hier auf Dich warten. Allerdings dauerte es sehr lange und ich beschloss, mich nur ein bisschen auszuruhen. So bin ich hier gelandet.“ –  „Aber WER bist Du?“ fragte Ari und wartete gespannt auf die Antwort…

„Ari,…Ari…!Wach auf, träum nicht den ganzen Tag! Los, es gibt noch viel zu tun!“ Maria rüttelte Ari energisch am Arm und zerrte an seinem Pullover. Er öffnete die Augen, rieb sie mit der Hand als wollte er dadurch möglichst schnell wieder zur Besinnung kommen. Gegenüber stand seine Schwester, die ihn wütend und mit blitzenden Augen anfuhr: „Du bist doch ein Tagträumer! Längst solltest Du Wein und Olivenöl eingekauft haben, wir haben unseren Vorrat völlig aufgebraucht.“ Ari  stand auf, trat ein paar Schritte nach vorne, fuhr sich mit der Hand über den Kopf und versuchte wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Wie war das nun mit den Träumen ? Erlebte man darin die eigensten Wünsche, die im echten Leben noch oder gar keinen Platz finden? Waren sie Vorboten auf zukünftige Lebensveränderungen? Oder doch nur Phantasien oder Wahnvorstellungen ?

Ari atmete tief durch, trottete Richtung Keller, um die die leeren Olivenfässer zu holen. Er versuchte wieder zur Ruhe zu kommen und seine Arbeit fortzusetzen. Mit Schwung nahm er die ersten Kanister hoch und lud sie auf die Ladefläche des Pick-Ups, der hinter der Taverne geparkt war. Im Anschluss packte Ari noch mehrere leere Holzsteigen ein, die er mit neuen Flaschen Retsina füllen wollte. Mit quietschenden Reifen brauste er um die Ecke und bog auf die Landstraße ein, die in zum Großhändler im nächsten Dorf führte. Staub wirbelte auf als das Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit die Landstraße entlang preschte und die erste Straßenkreuzung passierte.

 

Aus einem seltsamen Gefühl heraus, blickte Ari in den Rückspiegel. Im aufgewirbelten Sand und Staub der Landstraße stand ein Mädchen mit rotbraunen Locken, weißem T-Shirt und Jeans….

 

Sonja Lehmann

Foto: Markus Bassler, Sonja Lehmann

 

 

 

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