Magische Momente

   

Südafrika, Kapstadt. Endlich kehre ich nach fast 30 stündiger Busfahrt von Namibia in die Stadt am Fuße des Tafelbergs zurück. Es ist beinahe zwei Uhr nachmittags und ich strecke noch einmal meine müden Beine aus und den Rücken knackend durch, bevor ich mit den anderen Mitfahrern den Doppeldecker verlasse. Hier am zentralen Busbahnhof  wirkt das moderne Fahrzeug wie von einem anderen Stern. Zwischen all den anderen  Autos, Bussen, Taxen, Fahrrädern aus vielen Generationen und verschiedensten Ursprungsländern, verabschiede ich mich mit einer herzlichen Umarmung von meiner einheimischen Sitznachbarin, die mich während der langen Fahrt großzügig mit Essen und Trinken versorgt hat. Obwohl wir uns niemals zuvor begegnet waren, wurde ich bereits nach ein paar Minuten Fahrt sozusagen adoptiert und damit auch in die Essensausgabe integriert. Ein mehrgängiges Menu hätte nicht vielseitiger sein können und angenehm gekühlte Lebensmittel tauchten während der langen Strecke wie aus einer Zauberkiste immer neu auf, wanderten über den kleinen Rucksack auf meinen Schoß und in meine Hand. Gütige dunkelbraune Augen und ein aufmunterndes Tätscheln meines Oberschenkels unterstützten die afrikanisch-deutsche Aktion „das Kind muss doch was essen“. Und wie zu Hause bei meiner Großmutter, half zaghafter Protest meinerseits wenig und ich nahm ihr Angebot, das sie ausschweifend in einer Mischung aus holprigem Englisch und Afrikaans unterbreitete, nach nur ein paar Minuten dankbar an. Die Herzlichkeit der Menschen, die mir nun schon seit Wochen immer wieder begegnet, beschämte mich beinahe, denn in den meisten Fällen ist sie bei denjenigen am größten, die eigentlich selbst am wenigsten haben.

   Nach einem letzten Winken und dem Versprechen weiterhin gut auf mich aufzupassen, mache ich mich auf, den richtigen Bus zu finden, der mich zu meiner nächsten Adresse bringen wird. Die Linie Nr. 12 startet normalerweise gleich um die Ecke und so erreiche ich nach wenigen Metern die Abfahrtsstelle. Abfahrtszeit und Haltestationen sind auf einem vergilbten Ausdruck gerade noch zu erkennen und ich vertraue darauf, dass in einigen Minuten meine nächste Fahrt beginnen kann. Es ist früher Nachmittag und die Sonne brennt im südafrikanischen Spätsommer erbarmungslos auf Strassen und Bordstein. Der Wind, der hier sonst beinahe täglich weht, ist heute nur ein laues Lüftchen. Der von der Sonne bereits aufgeheizte Asphalt und die angrenzenden Häuserfronten geben die seit den Morgenstunden gespeicherte Wärme zusätzlich ab und die ersten Schweißtropfen beginnen über meinen Nacken und den Rücken zu laufen. Ich stelle meinen Rucksack, der eigentlich leicht, weil leergegessen und nur mit wenigen sehr sommerlichen Kleidungsstücken gefüllt, neben mich ab und werfe die letzte Wasserflasche, in der nur noch ein Rest von schalem Orangensaft schwimmt, in den Mülleimer neben mir. Ich drehe mich in den schmalen Schattenstreifen, den ein Laternenmast bietet und tadle mich innerlich selbst, nicht so empfindlich zu sein. Seufzend lehne ich mich rücklings an eine Bank und betrachte eine junge Schwarzafrikanerin, die mit gemächlichen Schritten auf mich zukommt. Auf ihrem Rücken trägt sie in einem leuchtend lilafarbenem Tuch ihr Baby, das entspannt schläft, den Kopf an ihren Rücken gelehnt. Kurz bevor sie sich neben mich stellt, begegnen sich unsere Blicke und ich fühle mich ein bisschen ertappt, sie so angestarrt zu haben. Einem hastigen, schüchternem „Hello“ aus meinem Mund, folgt jedoch ein breites Grinsen und sie erwidert „Hello Sister, everything fine? You take the Bus Nummer 12. too?“ frägt sie und erleichtert plappere ich los. Ich erzähle ihr von dem Abstecher nach Namibia und dass ich nun zu Freunden unterwegs bin, bei denen ich noch ein paar Wochen wohnen werde. Begeistert interessiert sie sich, woher ich eigentlich komme und schnell kommt ein Gespräch über Familie, Beruf und Afrika in Gang, so dass wir fast übersehen in unseren Bus einzusteigen, der uns beide, zumindest zunächst,  in die gleiche Richtung bringen soll.

   Leider gibt es keine Sitzplätze mehr und so quetschen wir uns in die bunte Menschenmenge im Bus, bleiben aber nahe am Ausstieg stehen. Quietschend schließen sich die Türen und mit energischem Hupen reiht sich der Busfahrer in den stockenden Verkehr ein. Dieses Mal ohne Klimaanlage unterwegs, kämpfe ich bereits nach ein paar Metern mit der stickigen Luft im Innenraum und den Gerüchen, die entstehen, wenn viele Menschen bei 35 Grad Raumtemperatur eng zusammenstehen und die gekippten Oberlichten nur die heiße Luft von links nach rechts wehen lassen. Chris, so heißt die junge Mama, ist von alledem unbeeindruckt. Selbst mit einem bunten Sommerkleid ausgestattet, über dem sie aber immerhin noch eine weiße Strickjacke trägt, steht sie entspannt in der Menge, hält sich nur in den Kurven oben an in den ledernen Halteschlaufen fest und summt inzwischen ein afrikanisches Kinderlied. Besorgt sieht sie mich nach ein paar Haltestellen an. Immer noch steigen Fahrgäste zu. Mir ist schleierhaft, wo diese noch Platz finden sollen und krampfhaft versuche ich mich von meiner aufsteigenden Übelkeit abzulenken, in dem ich versuche, mich wie hypnotisiert  auf die Ausblicke zum Meer zu konzentrieren, denn irgendwo an einem der ersten Stopps dort, kann ich endlich aussteigen. „Are you ok?“ höre ich sie noch fragen, bevor meine Knie endgültig einknicken. Eigentlich ist es unmöglich in so einer Menschenmenge ohnmächtig umzufallen – ich wüsste gar nicht wohin – aber kurz bevor ich zusammensacke, merke ich noch, wie mir jemand seinen Arm unter die Achsel schiebt, mich hochzieht und festhält. Kurz darauf schlägt mir ein frischer Luftzug entgegen und auf wackligen Beinen folge ich Chris, die sagt: „ We leave the bus here. Come with me, we`ll have something to drink and you relax a little bit“. Ohne ernsthaft zu protestieren, trotte ich ihr hinterher und muss nach ein paar Metern schon wieder lächeln, Das Baby ist aufgewacht und prustet mir kleine Spuckbläschen entgegen, bevor es glucksend  typisches Babygebrabbel von sich gibt. Dabei sieht es zuckersüß aus und ich schneide beste europäische Grimassen, an denen es sichtlich Gefallen findet.

   Chris dreht sich zu mir um, lacht ebenfalls und bietet mir mit einer einladenden Handbewegung an, das kleine Häuschen, das nun an der Straßenecke auftaucht, zu betreten. Ganz kurz zögere ich, denn die Warnungen, nicht einfach mit fremden Menschen mitzugehen, kannte ich wie viele andere Mädchen auch, aus meiner Kinderzeit und auch vor meiner Abreise wurde mir dieses Credo ebenfalls für Südafrika warnend ins Gedächtnis gebracht. Meinem guten Bauchgefühl aber folgend, und nach einem aufmunternden „come in, you are welcome“ , trete ich über eine ausgetreten Holzschwelle nach innen. Angenehm kühle Luft schlägt mir entgegen und ich spüre, wie meine Lebensgeister zurückkehren. Das winzige Zimmer im Inneren bewohnt Chris unter der Woche alleine mit ihrer Tochter, die sie, während sie mit mir spricht, nebenbei routiniert aus dem Tragetuch nimmt und auf ihr Bett legt. Nur von Freitag bis Sonntag, also auch heute, würde ihre Großmutter bei ihr schlafen. Sie helfe ihr, damit sie am Wochenende einen zweiten Job machen und jemand das Baby versorgen könne. Aufgeräumt und blitzblank ist es in diesem vielleicht 35 Quadratmetern und Chris schiebt mir mit einer aufmunternden Geste, doch jetzt endlich einen Schluck zu trinken, ein großes Wasserglas hin, in das sie noch ein paar Spritzer Zitrone gibt. Sie setzt sich neben mich, nimmt ihre Tochter auf den Arm und beginnt, sie zu stillen. Draußen rauscht der Verkehr vorbei und ein lärmendes Radio aus dem Nachbarhaus erinnert mich wieder lautstark daran, dass ich nur eine kurze Pause machen wollte. Gerade als ich Chris erklären will, dass ich mich wieder auf den Weg machen werde, öffnet sich knarzend die Türe und eine kleine, leicht nach vorn gebeugte Frau, betritt den Raum. Sie ist völlig weisshaarig und  tief in das Gesicht gegrabene Falten deuten auf viele Entbehrungen und Leiden in ihrem langen Leben hin. Gestützt auf einen Holzstock schlurft sie Schritt für Schritt zu uns an den Tisch, hält kurz inne und schaut mich unverhohlen an. In Afrikaans frägt sie Chris etwas, das ich nicht verstehe aber mit einem kurzen Blick auf das immer noch Milch trinkende Kind, setzt sie sich, anscheinend zufrieden mit der Antwort, zu uns an den Tisch. Sie legt ihren linken Arm auf die Resopalplatte und fingert mit dem rechten in der Rocktasche. Zitternd zieht sie ein Päckchen Zigaretten heraus, holt eine davon aus der zerknüllten Packung und wartet bis Chris ihr, ohne eine Wort zu sagen, das Feuerzeug aus ihrer Handtasche gibt. Die alte Frau steckt die Zigarette in den Mundwinkel und nach mehreren Anläufen gelingt es ihr, sie anzuzünden und den ersten Zug tief zu inhalieren. Sie bläst den Rauch hoch in die Luft, während Chris das Kind hochnimmt und in einen klapprigen Kinderwagen legt. Sie schiebt den Wagen in das andere Ende des Zimmers, öffnet das Fenster einen Spalt und bleibt davor stehen, diesen im gleichmäßigen Rhythmus schaukelnd, um das Kind in den Schlaf zu wiegen. Obwohl fasziniert von der mir völlig fremden Situation, beschließe ich ein zweites Mal, jetzt doch aufzubrechen.

 Plötzlich greift die rauhe Hand der alten Dame nach meinen Händen und drückt sie wieder auf den Tisch. Ich blicke ihr direkt in die Augen und merke, wie mir in der Luft, die nun getränkt ist vom Rauch des Tabaks, schummrig wird. Die noch vorhin lauten Geräusche, höre ich nur noch wie durch Watte und mir fehlt jegliches Gefühl für Wärme oder Kälte. Ein eigenartig beengtes Gefühl beim Schlucken jagt mir ein Schaudern über den Rücken und ich kann weder aufstehen, noch irgendein Wort hervorbringen. Ich atme den Rauch, der nun fast den ganzen Raum erfasst, unweigerlich ein und ich fühle, wie alles leichter wird, angenehm, mich ein unbestimmtes Glücksgefühl erfasst. Ich hebe meinen Kopf leicht an und blicke direkt in das Gesicht der alten Frau. Sie beginnt, ein mir unbekanntes Lied zu singen, wiegt sich selbst leicht dabei hin und her, und lässt währenddessen meine Hände kein einziges Mal los. Meine Augen werden schwer und ich sinke in einen Traum, in dem ich mich auf einem afrikanischen Dorfplatz weit ab der großen Stadt, wiederfinde, wo ich bei einer Feier in den Kreis der dort tanzenden Menge aufgenommen werde. Zunächst stolpere ich etwas ungelenk den Tanzenden hinterher aber nach ein paar Runden bin ich völlig integriert und ein Teil der ganzen Gemeinschaft. Die Musik wird schneller und schneller. Alle halten sich an den Händen und ich fühle mich glücklich, beschützt und habe keine Angst  mehr. Langsam ebbt die Musik ab, wir lassen die Hand des Nachbars los und lachen uns gegenseitig an. Die Luft ist erfüllt von Glück und Frieden.

 

   Ein keuchender Hustenanfall holt mich zurück in die Realität. Erschrocken blicke ich auf und schiebe der Großmutter von Chris mein Wasserglas hin. Die Zigarette glimmt nur noch ein kleines bisschen, bevor sie sie nun auf dem Unterteller neben sich, endgültig ausdrückt. Nach einem kräftigen Schluck, klopft sie mir ein letztes Mal auf meine Hände, auf denen man noch deutlich ihren festen Händedruck erkennen kann. Sie lächelt mich an, aus ihrem beinahe zahnlosen Mund schlägt mir nochmals der Geruch des Tabaks entgegen und mit einer aufmunternden Geste deutet sie mir an, aufzustehen und zu gehen. Ich werfe einen Blick auf Chris und Ihr Baby, das mittlerweile seelig schlummert. Auch Chris ist entspannt auf ihrem Bett eingeschlafen. Um sie nicht zu wecken, packe ich leise meine Sachen, gehe um den Tisch herum, an dessen Seite die alte Frau sitzen bleibt, nicke ihr zu und murmle „thank you, Danke, Good bye.“ Sie dreht den Kopf zu mir herüber und erwidert klar und deutlich: „You are a good girl, god bless you. You always will be safe wherever you go.“

 Ich lächle und verlasse den Raum, trete in das gleißende Sonnenlicht auf die Straße und gehe die wenigen Schritte zurück zur Bushaltestelle. Nach ein paar Minuten fährt der Bus mit der Nummer 12 vor. Ich steige ein und setze die Fahrt Richtung Süden und hin zu meinen Freunden fort. Plötzlich brummt mein Handy und als ich es aus dem Rucksack nehme, sehe ich, dass ich bereits mehr als zehn Anrufe verpasst habe, mindestens ebenso viele sms und mehrere Sprachnotizen. Die Realität hat mich wieder, denke ich noch, als ich eine Seite in den sozialen Netzwerken öffne. Ganz oben und in vielen einzelnen Überschriften lese ich, dass es vor kurzem einen schweren Verkehrsunfall in Kapstadt gegeben hat. Involviert waren mehrere Autos und ein Linienbus, dessen Fahrer einen Herzinfarkt erlitten und den Unfall verursacht hatte. Fast alle Insassen waren schwer verletzt, es gab einige Tote. Die Nummer des Busses war auf den ersten Fotos deutlich zu erkennen. Es war die Nummer 12….

Sonja Lehmann

Fotos: Pixabay

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