Traumgeschichten

Manche Geschichten nehmen uns mit auf eine Reise. An Orte und zu Menschen, die wir mit besonderen Erinnerungen verknüpfen. Dann verwandeln sie Zeit und Raum. 

Und es hat „Bling“ gemacht.

Eine Traumgeschichte zur Weihnachtszeit 

Suri nahm die winzige Perle vorsichtig in die Hand, die wie aus dem Nichts vor ihre rot-weiß karierten Gummistiefel gerollt war. Auf dem Weg durch die Stadt, vorbei an unzähligen gestressten Erwachsenen, die schon lange den Blick für die kleinen Dinge verloren hatten, entdeckte das Mädchen das Schmuckstück, das im Schnee vor ihr lag. Sie riss sich von ihrer Mutter los und ging tief in die Hocke. Völlig fasziniert griffen ihr kleiner Zeigefinger und Daumen, die deutliche Spuren des Schokolebkuchens vom Weihnachtsmarkt trugen, nach der bunten, winzigen Kugel. Sie glitzerte und schimmerte effektvoll auf dem frisch gefallenen Schnee.

„Oh, ist die schön! Mama, es hat einfach Bling gemacht, schau doch mal!“ rief sie ihrer Mutter hinterher, die einige Meter vorausgelaufen war und nun, deutlich genervt von der Trödelei ihrer Tochter, unwirsch antwortete:

„Suri, lass die Finger davon! Fass nicht immer alles gleich mit den Händen an!“

Um einer weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen, schob Suri blitzschnell die kleine Perle in ihre Jackentasche und lief artig los. Ohne Erklärung gab sie ihrer Mutter wieder die Hand.

„War nicht so wichtig“, murmelte sie und trottete folgsam weiter. Endlich gelangten sie zum Auto und machten sich auf den Heimweg. In ihrem Kindersitz war Suri zu fest angeschnallt, als dass sie die Möglichkeit hatte, ihren Schatz nochmals in Ruhe zu betrachten.

„Das hebe ich mir für heute Abend auf“,flüsterte sie und beschloss, deshalb schnell und ohne Murren, ins Bett zu gehen. Ihre Mutter wunderte sich, wie reibungslos an diesem Abend die Zähneputz- und Bett-geh-Zeremonie verlief. Sie schob es kurzerhand auf das Ende eines langen Tages, gab ihrer Tochter einen Gute – Nacht – Kuss und deckte sie liebevoll zu.

„Träum´ was Schönes, bald ist Weihnachten und die kleinen Helfe-Elfen des Christkinds schauen immer zwischendurch nach den Kindern“, sagte sie. „Sie berichten dann ob sie wirklich so brav sind und all die Geschenke bekommen sollen, die auf den Wunschzetteln stehen.“

Suri nickte ehrfürchtig und ließ den Tag noch einmal Revue passieren. Aber sie erinnerte sich an keinen Fehltritt. Sie hatte sich heute besonders lange und gründlich ihre Zähne geputzt, die Finger einzeln geschrubbt und sogar die Haare solange gekämmt, bis sie glänzten. Aus ihrer Sicht konnten die Elfen kommen, die würden staunen!

Als die Mutter das Zimmer verlassen und die Tür bis auf einen minimalen Spalt geschlossen hatte, krabbelte Suri wieder aus dem Bett. Sie sauste zu ihrem Schreibtisch und zog die oberste Schublade auf, in der sie vorhin schnell die kleine Perle versteckt hatte. Leise tappte sie zurück, kuschelte sich in ihr dickes Federbett, zog beide Knie an und … DA lag sie ! Zartrosa schimmerte die winzige Kugel in ihrer Hand. Je nachdem, wie sie das Licht ihres Nachttischlämpchens  anstrahlte, schillerte sie in allen Farben. Dies war tausend Mal bunter als der Regenbogen, den Suri im letzten Sommer nach einem Gewitter gesehen hatte! Glatt und ohne eine tiefe Rille fühlte sich die Oberfläche wie Samt an. Suri konnte nicht aufhören, die Perle immer weiter zu drehen und sie von oben nach unten, von links nach rechts zu betrachten.

„Hey! Nicht so schnell, mir wird ganz schwindlig!“, tönte es da auf einmal direkt aus Suris Nähe. „Du drehst zu viel und zu schnell!Ich hasse Karussell fahren!“

Suri ließ erschrocken die Perle auf ihre Bettdecke fallen und schaute mit großen Augen auf eine kleine Elfe, die oben auf dem Schmuckstück saß und ein reichlich blasses Gesicht hatte.

„Wer bist Du denn ?“ , flüsterte Suri heiser und war sich nicht mehr so sicher ob sie nicht doch schon eingeschlafen und in einem sonderbaren Traum war.

„Ich bin Elfie“, erwiderte das kleine Wesen, das nun deutlich auf der Perle zu sehen war. Es zupfte ihr weißes Kleidchen zurecht, rüttelte, schüttelte und streckte sich erst ausgiebig, bevor es dann das Glanzstück wie einen Hocker benutzte und sie fest zwischen ihren Beinchen einklemmte.

„Du hast mich doch gerettet! Du hast die Perle zusammen mit mir von der Straße aufgehoben und mitgenommen. Wärst Du nicht gewesen, hätten Schneematsch und die schweren Winterstiefel der Erwachsenen uns womöglich zermalmt und wir wären in tausend kleinen Einzelstücken unter dem Schnee begraben worden“, erklärte das putzige Wesen weiter.

„Weißt Du, in der Weihnachtszeit bin ich immer viel unterwegs, um überall nach den Kindern zu sehen. Heute Nachmittag war ich aber so furchtbar müde“, wisperte die Elfe und rieb sich wie zur Bekräftigung erst das linke, dann das rechte Auge. „Ich wollte mich in einer der Weihnachtsbuden ausruhen und setzte mich genau in die Mitte eines Perlenanhängers für den Christbaum. Das schien mir absolut sicher zu sein.“

Suri hörte staunend zu. Gefesselt von der Geschichte, zupfte sie am oberen Ende der Bettdecke, um diese ein Stück vor ihrem Bauch fest zusammen zu knüllen. „Und dann? Wie ging es weiter?“, fragte sie mit vor Aufregung heiserer Stimme.

„Plötzlich griff die Hand der Verkäuferin an den Anhänger und packte ihn mit mir in eine Papiertüte. Diese war zu klein, aber trotzdem stopfte und quetschte sie uns mit aller Gewalt hinein. Da machte es „Bling“ und die größte und schönste Perle des Schmucks löste sich aus der Fassung und rollte über den Verkaufstresen“, fuhr die kleine Elfe fort.

„Es ging alles so schnell und ich wurde mitgezogen, schrecklich hin- und her geschleudert und landete schließlich auf dem Kopfsteinpflaster am Boden. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, denn durch die Landung waren meine Flügelchen ganz nass geworden und ich konnte nicht wegfliegen.“

Das Elfchen drehte ihr Köpfchen nach hinten und überprüfte kurz den Flügelschlag. Suri hörte ein leises Surren und beobachtete, wie sich die zarten Elfenflügel, sanft bewegten.

„Ich schmiegte mich seitlich an die Perle – doch da näherte sich eine riesige schwarze Stiefelspitze, blieb nur ein paar Zentimeter vor uns stehen, rutsche dann doch vor und versetze uns erneut einen Stoß. Wir rollten weiter und kamen genau an der Stelle zum Liegen, an der Du kurz darauf vorbeikamst. Das war die Rettung!“

Elfie schüttelte wieder den Kopf, so dass ihre lustigen braunen Locken durcheinander fielen und nur eine einzelne Strähne frech über der Nase hängenblieb, die sie jetzt lässig nach oben wegpustete. Suri nahm ihren ganzen Mut zusammen, setzte die Perle mit Elfie nochmals in ihre Handfläche und sagte: “Wow, ich wollte schon immer mal eine echte Elfe kennenlernen. Kennst DU denn wirklich auch das Christkind?“

Elfie lächelte sie an und nickte zustimmend.

„Selbstverständlich tue ich das. Wir Helfe-Elfen sind die engsten Vertrauten, weil wir alle Geschichten, die wir über die Kinder sammeln, in einem dicken Elfenbuch aufschreiben. Alleine würde das Christkind das nie schaffen und der Nikolaus ist ja auch schon nicht mehr der jüngste. So gehen wir sicher, dass wirklich nur die braven Kinder ihren Wunschzettel erfüllt bekommen“, erklärte das kleine Wesen und nickte mit dem Kopf, um das Gesagte zu unterstreichen.

Blitzschnell überlegte Suri , ob es denn irgendetwas gäbe, was sie falsch gemacht oder sogar erschwindelt hatte. Aber noch bevor sie ins Nachdenken kommen konnte, ertönte erneut die heitere Elfenstimme:

„Hey Suri, was machst Du für ein angestrengtes Gesicht? Du hast mir heute das Leben gerettet. Du bist eine echte Heldin!“

“Oh nein, das war doch selbstverständlich!“, antwortete Suri verlegen und wurde ein bisschen rot.

“War es nicht“, erwiderte Elfie und kniff die Augen zusammen, „aber pass auf, schau genau hin!“

Die quirlige Elfe schnipste in die Finger und mit einem Mal rieselten unzählige kleine goldene Sternenstaubkörnchen von der Decke herab und legten sich wie Schneeflocken auf Suris Bett, ihre Haare und auf ihre Kuscheltiere, die jede Nacht bei ihr schliefen.

„Oh, ist das wunderschön!“ Elfie strahlte über das ganze Gesicht.

„Ja, das ist es wohl! Und weißt Du, was das Beste ist? Diesen Sternenstaub kann ich nur herbeizaubern, wenn die Kinder immer ehrlich waren. Und schau‘ nur, wie viele es nun sind! Juhuu!“, jubelte sie und klatschte dabei eifrig in beide Hände.

Nun lachte auch Suri und weil mittlerweile der Sternenstaub genau in ihr Gesicht rieselte, begann sie, sich die Augen zu reiben. Aber es juckte immer mehr, so dass sie sich ausstrecken musste und ihren Kopf flach auf das Kissen legte. Alles um sie herum fühlte sich schwer an und die Augenlider fielen wie von selbst zu.

„Warte Elfie, warte! Nur ein kleines bisschen ausruhen, dann erzählen wir uns noch viel mehr voneinander, versprochen!“, murmelte sie und einen Moment später war sie eingeschlafen, atmete tief und fest. Elfie lächelte selig, klatschte in die Hände, setzte ihre Flügel in Bewegung und machte zum Abschluss einen kurzen Rundflug über die schlafende Suri.

„Alles in bester Ordnung“, stellte sie zufrieden fest. Sie legte die kleine Perle in Suris leicht geöffnete Hand, gab ihr einen Elfenkuss auf die Nase und flog leise durch den Türspalt davon.

Am nächsten Morgen erwachte Suri ausgeruht und voller Tatendrang. Und sofort erinnerte sie sich, dass sie diese Nacht einen ganz besonderen Traum hatte. Sie sprang aus dem Bett und sauste in die Küche, wo ihre Mutter den Frühstückstisch deckte.

„Mama, Mama, ich hab von Elfen geträumt und weißt Du was? Elfen kennen das Christkind! Und ja, schau, auf dieser kleinen Perle saß Elfie!“, sprudelte es aus ihrem Mund heraus, während sie ihr triumphierend die ausgestreckte Hand mit der schillernden Kugel darauf, entgegenstreckte.

Die Mutter  lächelte und schnipste zärtlich einen winzigen, glitzernden Stern von Suris Nase.

„Na dann wollen wir mal einen sicheren Ort für sie suchen“, sagte sie und holte aus der Schublade unter dem Tisch ein kleines goldenes Kästchen hervor. „Schließlich soll Elfie immer einen gemütlichen Rastplatz vorfinden, wenn sie dich wieder einmal besucht.“

Behutsam legte Suri die „Bling“ – Perle hinein und verschloß es sorgfältig. Nun wartet sie dort auf nächstes Weihnachten und vielleicht auch auf ein Wiedersehen mit Elfie.

Sonja Lehmann, Die Wortmalerin

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